Reporting
„An Ukrainern werden häufig Lohnkosten gespart“
Um den Lohn geprellt oder in die Kündigung gedrängt: Zu Sergey Sabelnikov von der arbeitsrechtlichen Beratungsstelle IQ Service Faire Integration kommen Ukrainer*innen und Migranten aus anderen Ländern, die von ihren Arbeitgebern ausgenutzt wurden. Die Probleme, die sie schildern, ähneln sich dabei sehr. Steckt dahinter ein System?
der Freitag: Herr Sabelnikov, seit Frühjahr 2022 sind über eine Million Ukrainer*innen nach Deutschland gekommen. Viele davon haben mittlerweile einen Job. Wer kommt zu Ihnen?
Sergey Sabelnikov: Wer sich bei mir meldet, hat bereits einige Missstände erlebt. Zunächst waren es vor allem Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan, Somalia und den Maghreb-Ländern. Das hat sich seit Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine drastisch gewandelt: Allein 2023 stammte ein Drittel der Beratungsanfragen hier in Rheinland- Pfalz von Ukrai ner*innen: 220 von 694. Ich berate auch auf Russisch, so habe ich einen guten Einblick in die Probleme erhalten. Und: Daran sieht man, wie groß der Druck sein muss in dieser Gruppe.
Wie unterscheidet sich die Lage der Ukrainer*innen denn von anderen Ratsuchenden?
Manche Geflüchtete, die zu mir kommen, haben einen sehr gefährlichen und langen Fluchtweg hinter sich, sie haben sich für die Flucht häufig hoch verschuldet. Der Druck, schnell die Sprache zu lernen, sich schnell Jobs zu suchen, ist dadurch sehr hoch. Dagegen dachten am Anfang viele Ukrainer*innen, sie gehen in die Heimat zurück – die herausragende Bedeutung von Sprachkenntnissen wurde da oft unterschätzt, so mein Eindruck.
Wenn sie kein Deutsch sprechen, wie kommen sie denn an die Job angebote?
Über mündliche Empfehlungen oder durch Social Media gelangen viele an Jobs. Es gibt etwa Telegram- Gruppen für Ukrainer*innen mit Ausschreibungen auf Russisch oder Ukrainisch.
Werden denn spezifisch Ukrainer*innen ausgebeutet?
Viele Probleme mit Ausbeutung am Arbeitsplatz ähneln sich. Sie folgen dem gleichen Muster. Die Ukrainer sind nicht die einzige Gruppe, deren Lage Arbeitgeber systematisch ausnutzen. Alle Mi granten sind gefährdet.
Wenn wir von Arbeitsausbeutung sprechen, denken viele wohl an drastische Fälle: von Menschenhandel bis zur sklavenähnlichen Beschäftigung etwa.
Stimmt. Bei den Ukrainer*innen beobachte ich andere Schwierigkeiten. Aber auch die sind keine Kleinigkeit. Wer von Kavaliersdelikten spricht, läuft Gefahr, gravierende Probleme zu verstetigen, die nicht als normal angesehen werden dürfen. Nicht zuletzt, um die Werte des Rechtsstaats zu bewahren, in dem wir leben.
Was für Missstände werden Ihnen denn geschildert?
Unsachgemäße Kündigung, Vorenthalten des Lohns oder des Urlaubs, Unterschreiten des Mindestlohns – um nur ein paar zu nennen. Insgesamt bräuchte es in Deutschland mehr allgemeinverbindliche Tarifverträge, um Beschäftigte zu stärken. Zu oft suchen Arbeitgeber Schlupflöcher, um an Ukrainern die Kosten für Löhne zu sparen und so die eigenen Profite zu erhöhen. Dazu kommt die Schwierigkeit, dass ein Arbeitnehmer erlebte Missstände erst mal belegen muss. Was mache ich aber, wenn ich nicht mal einen schriftlichen Arbeitsvertrag habe, da dieser nur mündlich geschlossen wurde? Was mache ich, wenn die Krankenkasse von mir hohe Nachzahlungen fordert, weil mein Arbeitgeber mich nicht ordnungsgemäß angemeldet hat? Das Nachsehen haben so immer zunächst die Beschäftigten.
Sind alle Branchen davon betroffen?
Meistens sind es Schilderungen aus der Gastronomie und der Hotellerie. Dort arbeiten besonders häufig Ukrainerinnen. Die Männer melden sich oft aus Kfz-Betrieben oder der Baubranche. Es geht also vor allem um den Niedriglohnsektor, wo man in der Regel schneller und einfacher Jobs findet.
Dabei haben viele Ukrainer*innen ein hohes Bildungsniveau.
Ja. Viele kommen aus kaufmännischen Berufen, dem Finanzwesen oder haben Hochschulabschlüsse. Das bringt Vorteile. Auch war die Bereitschaft in Deutschland sehr groß, ihnen von Beginn an zu helfen. Die EU hat sich schnell eingesetzt, um ein automatisches Aufenthaltsrecht zu erwirken. In Deutschland regelt das nun Paragraf 24 des Aufenthaltsgesetzes. Ein langwieriges Asylverfahren konnten die Ukrainer*innen sich somit sparen. Das sind einige Privilegien, die andere Geflüchtete nicht haben.
Und die Ukrainer*innen haben die Chance, einen Integrationskurs zu machen – inwiefern kann dieser Missstände verhindern?
Diese Kurse helfen, sich sprachlich für Jobs zu qualifizieren, und sie verbessern die Aussicht auf dauerhaften Aufenthalt. Sprache ist keine Garantie, aber die Wahrscheinlichkeit, dass man bei einem problematischen Arbeitgeber landet, ist geringer, wenn man Deutsch gut beherrscht.
Trotzdem suchten sich einige Ukrainer*innen lieber direkt nach ihrer Ankunft in Deutschland Arbeit, und nicht erst nach einem Deutschkurs.
Ja. Viele erklären mir, sie haben eine Familie zu ernähren. Oft hat ein Job auch etwas mit dem Selbstwert zu tun. Manchmal baut die Kommunikation mit dem Jobcenter, wo viele registriert sind, Druck auf, zügig in Arbeit zu kommen.
Und wenn sie im Job ausgenutzt werden, wie reagieren die Ukrainer*innen in Ihrer Beratung auf diese Erfahrung?
Die meisten sind enttäuscht, dass ihnen so etwas ausgerechnet in Deutschland passiert, einem Land, das für seinen soliden Rechtsstaat und vielleicht auch seine Rechtschaffenheit bekannt ist. Das macht viele fassungslos. Und natürlich sind sie aufgebracht.
Inwiefern rüttelt das am Vertrauen zum Rechtsstaat?
Je nach Beratungsfall herrscht eher eine Angst vor dem Jugendamt oder vor der Polizei als vor dem Arbeitsgericht. Nur: Viele Ukrainer* innen kennen ihre Rechte gar nicht. Ich will die Menschen zu ihren Pflichten und Rechten auf dem Arbeitsmarkt aufklären. Aber ich treffe die meisten ja nicht vor Antritt ihres Jobs, sondern zu einem Zeitpunkt, an dem sie bereits Betroffene von Missständen geworden sind. Da geht es also besonders darum, zu sehen: Was können wir nun dagegen tun?
Wie haben sich denn die Beratungsfälle seit Februar 2022 entwickelt?
Aktuell sind es etwas weniger Fälle. Zu Beginn des Krieges wurden teils ukrainische Frauen direkt an der Grenze zu Polen abgeholt und dann in Hotels als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Die Abhängigkeit war groß, denn die Frauen waren direkt vom Arbeitgeber in Unterkünften untergebracht. Wer kündigte, verlor damit auch das Dach über dem Kopf. Jetzt sind die Fälle andere: Das liegt wohl auch daran, dass viele Ukrainer*innen mittlerweile selbstständiger geworden sind und besser Deutsch sprechen. So finden sie auch andere Jobs oder können sich besser wehren.
Das Gespräch führten Olivia Samnick und Mariya Merkusheva