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Neue grüne Welle
Ein Flaschenzug, ein Förderband und ein paar Plastikplanen: In ei- ner offenen Lagerhalle oberhalb der Mulroy Bay im Norden Ir- lands werden Algen geerntet. Zwei Männer in Ölzeug schneiden gold- braun-glänzende Seetangblätter von Tau- en, die vor kurzer Zeit noch im Atlantik hin- gen. Die Pflanzen wurden im Labor vorkul- tiviert, dann an Zuchtleinen im Meer ver- senkt und nach ein paar Monaten Wachs- tum wieder eingeholt. Das sei Pionierar- beit, sagt Joost Wouters, Gründer von The Seaweed Company. Techniken und Maschi- nen müssten von Grund auf neu erfunden werden.
Getrocknet schmeckt der irische Flügel- tang hinreißend nach Meer, schwärmt Wouters. Sein Seetang geht an die Lebens- mittelindustrie und steckt zum Beispiel in pflanzlichen Hamburgern. Seetanganbau verbrauche vor allem keine knappen Res- sourcen. Er reinige sogar Buchten und Küs- tengewässer von Schadstoffen wie Stick- stoff und Phosphat durch die Landwirt- schaft oder aus der Fischzucht. „Das ist das Schöne daran, man braucht kein Land, kein Süßwasser und keinen Dünger“, sagt Wouters. „Deshalb sehen jetzt so viele Leu- te interessante Möglichkeiten in Algen.“
Nicht nur bei Seetang-Pionier Wouters grassiert das Algenfieber. Entlang der euro- päischen Atlantik- und Nordseeküsten werden derzeit überall Algenfarmen ge- gründet. Weltweit wird die Industrie bis zum Ende des Jahrzehnts von knapp 40 auf bis zu 90 Milliarden Euro Umsatz an- wachsen, prognostizieren Marktforscher. Daher zeigen multinationale Unterneh- men, Start-ups und Investmentbanken in ganz Europa Interesse an dem neuen Sek- tor. Auch die EU-Kommission stellt großzü- gige Subventionen für die Algenbranche bereit.
Laut EU sollen Algen zukünftig einen wichtigen Beitrag zu den Klimazielen des Green Deal leisten, mit dem sie ihre Treib- hausgasemissionen bis 2030 um 55 Pro- zent reduzieren will. Die Pläne sind äu- ßerst ehrgeizig. Die Mitgliedstaaten könn- ten theoretisch bis zu eine halbe Million Quadratkilometer Meeresfläche für den Seetanganbau freigeben, schätzt ein Beam- ter der EU-Kommission. Das sind umge- rechnet etwa 70 Millionen Fußballfelder. Wenn alles nach Plan läuft, könnte die In- dustrie bis zum Jahr 2030 rund acht Millio- nen Tonnen Seetang ernten, so lautet die ehrgeizige Vision.
Ökologen und Meeresbiologen aber ha- ben Bedenken, dass diese industriellen Al- gen-Monokulturen tiefgreifende Verände- rungen für die nordeuropäische Meeres- ökologie bedeuten könnten. Sie warnen un- ter anderem vor invasiven Arten, dem Ver- lust von Biodiversität und der Zerstörung der Habitate von Meeressäugern wie dem Schweinswal.
„Erst unter Wasser sieht man, was wir hier schützen wollen“, sagt Dolf d’Hondt, bevor er im Trockenanzug und mit rosa
Taucherbrille in den Nordatlantik ein- taucht. Gemeinsam mit anderen Einwoh- nern des Fischerdorfes Bantry kämpft der stämmige Umweltaktivist gegen die kom- merzielle Ausbeutung der Seetangwälder im Süden Irlands. Von oben wirkt die Fels- küste schroff und grau. Unter Wasser aber leuchten: gelbe Meeresspaghetti, lila Lap- pentang, grüner Meersalat und die schwe- benden goldbraunen Blätter des Riesen- tangs.
Hunderte Arten leben unter den Kronen der Tangpflanzen. Wie Regenwälder an Land gehören Kelpwälder zu den produk- tivsten und artenreichsten Ökosystemen des Planeten. Die Unterwasserpflanzen die- nen nicht nur als Kinderstube und Lebens- raum für viele Fische, Krebse, Würmer und Wirbellose, sie bieten auch Robben und anderen Säugetieren Nahrung und per- fekten Schutz. Die Tangwälder wachsen vor allem in den kühleren Gewässern der gemäßigten Breitengrade, in Europa zum Beispiel vor den Küsten Irlands und Norwe- gens oder in der Helgoländer Bucht.
Makroalgen werden seit der Jungsteinzeit als Nahrung, Futter und Dünger verwendet
„Das alles würde zerstört werden.“ D’Hondt zeigt auf die Küstenlinie der Ban- try Bay. Das Pharmaunternehmen Bio At- lantis, das Zusatzpräparate für die Schwei- ne- und Rindermast herstellt, erhielt 2014 die Lizenz zum maschinellen Ernten von Seetang für ein 7,5 Quadratkilometer gro- ßes Gebiet. Die Bewohner befürchten, dass die Abholzung des Unterwasserwaldes in ihrer Bucht verheerende ökologische Fol- gen haben wird. Nicht nur würde wertvol- ler Fischgrund verloren gehen, ohne den schützenden Tang könnte es zu Küstenero- sion kommen, Sturmschäden würden zu- nehmen. Die Proteste gegen die Genehmi- gung dauern seither an, und der Fall ist vor Gericht noch nicht entschieden.
Obwohl sie weltweit von der Meereser- wärmung bedroht sind, werden Kelpwäl- der in Europa nicht geschützt. In den Fjor- den Norwegens, an der bretonischen Küste in Frankreich und rund um Island wird Wildtang maschinell mit Booten geerntet. Trawler mit großen Stahlklauen werden eingesetzt, die den Meeresboden durch- pflügen, bis das ganze Seetangbett mit Stumpf und Stiel aus dem Wasser gezogen ist. Es dauert bis zu fünf Jahre, bis die Pflan- zen nachgewachsen sind. Einige einheimi- sche Seetang-Arten entlang der Südküste Norwegens sind dadurch schon so gut wie verschwunden.
Vor 3,5 Milliarden Jahren, lange vor den Landpflanzen oder Dinosauriern entstan- den Blaualgen: der erste Organismus auf der Erde, der Sauerstoff produzierte. Heu- te gibt es bis zu 400 000 Algenarten mit ei- ner enormen genetischen Diversität – von mikroskopisch kleinen Kieselalgen bis zum Riesen-Seetang. Rund 80 Prozent
sind Mikroalgen, mit bloßem Auge nicht er- kennbar. Braune, rote und grüne Makroal- gen hingegen werden vermutlich seit der Jungsteinzeit als Nahrung, Tierfutter und Dünger für den Anbau von Nutzpflanzen verwendet.
Da Algen viel hochwertiges Protein, Fet- te, Vitamine, Ballaststoffe und Mineralien enthalten, werden sie inzwischen als Su- perfood gehandelt. Große Food-Konzerne wie Cargill, Unilever oder Nestlé brauchen die Pflanzen vor allem für die Gewinnung von Alginat, Agar oder Carrageen, besser bekannt als E407. In den Regalen unserer Supermärkte stehen Tausende Produkte, in denen in irgendeiner Form Algen ste- cken, als Bindemittel in Brotaufstrichen, Eis und Joghurt oder Stabilisator in Salatso- ßen, Ketchup und Babynahrung.
Immer mehr Industriezweige sehen in Algen ein Material mit riesigem Potenzial für eine biobasierte Zukunft, das die Ab- hängigkeit von fossilen Rohstoffen verrin- gern kann und den CO2-Fußabdruck unse- res Konsums drosseln soll. Industriedün- ger, Medikamente, grüne Baustoffe und Farben, Bioplastik und Flugzeugbenzin – die Liste der Anwendungen scheint unbe- grenzt zu sein. Algenextrakte werden Tier- futter beigemischt, um klimaschädliche Methanemissionen in der Viehwirtschaft zu bekämpfen. Und in dem Maß, wie das In- teresse an Algen, ihrem Anbau und ihren Anwendungen zunimmt, steigt auch ihr Wert auf dem Markt.
Bislang stammen aber 97 Prozent der Al- gen aus Asien, wo kommerzielle Algenfar- men ganze Buchten einnehmen. In China, Indonesien und auf den Philippinen bietet ihr arbeitsintensiver Anbau mehr als einer Million Menschen ein Einkommen. Immer wieder kommt es in asiatischen Meeresfar- men jedoch zu Problemen. Die Algen sind oft mit Schwermetallen belastet oder ha- ben mit Bakterieninfektionen und Fäulnis- bildung zu kämpfen.
Die Covid-Pandemie, der Krieg in der Ukraine und die Klimakrise haben mittler- weile verdeutlicht, wie wichtig es ist, eige- ne Rohstoffe zu produzieren. Die Algen- zucht außerhalb Asiens steckt aber noch in den Kinderschuhen. Momentan kommt nur ein Bruchteil der 35 Millionen Tonnen Algen aus Europa: gerade mal 300 000 Ton- nen Seetang pro Jahr. Und die sind meist nicht aus Zucht, sondern größtenteils aus der Ernte von Wildbeständen. Darum setzt die EU auf den Ausbau einer europäischen Seetang-Industrie: Algen seien das „Gold der Meere“.
Dolf d’Hondt sagt dazu: „Der Anbau von Tang ist aus unserer Sicht erst einmal posi- tiv. Man verursacht potenziell keine Um- weltschäden, man erhöht die Artenvielfalt und die Anzahl der Meeresökosysteme“, sagt er. Aber großen Firmen ginge es häu- fig nur ums Geld. „Und genau das ist das Problem. Sie schauen weder auf die Um- welt noch die Ökologie, noch schauen sie darauf, wie viel nachhaltig produziert wer- den kann. Sie schauen nur auf Tonnage.“
Wenn es nach der EU und verschiede- nen Lobbyorganisationen der Industrie geht, wird ebendiese Tonnage benötigt, um eine ernsthafte Alternative zum asiati- schen Algenmarkt darzustellen. Die EU- Kommission hat im Rahmen des For- schungsprogramms Horizont 2020 inzwi- schen mehr als hundert Algenprojekte mit einem Beitrag von insgesamt 273 Millio- nen Euro gefördert. Das United-Projekt beispielsweise erforscht den Anbau von Zu- ckertang und Muscheln zwischen Offshore- Windanlagen in den Meeren Deutsch- lands, Belgiens und den Niederlanden. Auf sogenannten Mehrzweckplattformen wird untersucht, wie Synergien am selben mari- timen Standort funktionieren könnten und wie die Auswirkungen auf das Meeres- ökosystem sind.
Die deutsche Pilotanlage steht 80 Kilo- meter vor Sylt vor der schleswig-holsteini- schen Nordseeküste. „Wir wollen wissen, ob es technisch möglich ist, ein System an einem so exponierten Offshore-Standort zu betreiben“, sagt Projektleiterin Eva Strothotte vom Forschungs- und Entwick- lungszentrum der FH Kiel. „Die Nachfrage nach Offshore-Kultivierung wird immer größer, weil die küstennahen Gewässer schon voll sind. Es gibt einfach nicht genug Platz, und der Bedarf an Nahrungsmitteln und Proteinen wächst.“
Die Nordsee mag auf den ersten Blick weitläufig und leer erscheinen, in Wirklich- keit ist sie überlaufen: Fischfangflotten und Schifffahrtslinien, Pipelines und Bohr- inseln, Kabel und Trassen, Naturschutzge- biete, militärische Sperrgebiete und Off- shore-Windanlagen konkurrieren um Flä- che im Meer. Die Ampelkoalition hat die Ausbauziele für Windparks noch einmal ra- dikal erhöht, von heute knapp acht Giga- watt auf 70 Gigawatt bis 2045. Das bedeu- tet den Bau Tausender neuer Windräder. Ein heißes Thema, sagt Strothotte: „Der Druck auf die Windindustrie wächst gera- de enorm, weil die Gebiete nicht mehr nur für einen einzigen Nutzer in Anspruch ge- nommen werden können.“
Um auf einen künftigen Betrieb und ent- sprechendes Upscaling vorbereitet zu sein, versucht das Pilotprojekt zu ermitteln, wo die Risiken und Gefahren liegen und ob Off- shore-Aquakultur in absehbarer Zeit auch wirtschaftlich realisiert werden kann. „Es ist extrem aufwendig. Wir müssen nach technischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Lösungen suchen“, sagt Strothotte. Unternehmen aus aller Welt schauten auf das Projekt. „Wenn es unter diesen schwierigen Bedingungen funktio- niert, dann wird es überall funktionieren. Dann können neue Gebiete erschlossen werden.“
Zwölf Kilometer vor der niederländi- schen Küste, eine Stunde Fahrt vom Hafen Scheveningen entfernt, macht die Schiffs- schraube der Janne YE23 Überstunden. Auf einem 600 Hektar großen Gelände pro- biert das belgisch-niederländische Konsor- tium Wier & Wind, Teil des United-Pro-
jekts, verschiedene Techniken für Seetang- anbau und -ernte aus. Geschickt positio- niert der Skipper einen schaukelnden Mu- schelkutter neben einen Schlauch von 50 Metern Länge, an dem ein Netz mit Algen hängt. Der Eisenarm der neuen Verarbei- tungsmaschine hebt die Konstruktion an und schüttelt den geernteten Seetang in ei- nen an der Maschine befestigten Sack.
„Dies ist ein wichtiger Schritt nach vorn“, sagt Eef Brouwers von North Sea Far- mers, einer Organisation mit Sitz in Den Haag, die die Interessen von rund 100 Un- ternehmen der europäischen Algenindus- trie vertritt, darunter Unilever, Vattenfall und Shell. Die Lobbygruppe setzt sich bei der EU für Subventionen, Spielraum für die Ausweitung der industriellen Produkti- on und vor allem für vereinfachte und be- schleunigte Genehmigungsverfahren ein. „Wir wollen in der Zukunft in der Lage sein, unsere Rohstoffe nachhaltig in unse- rem eigenen Hinterhof anzubauen, anstatt sie aus der ganzen Welt zu importieren, was oft verheerende Auswirkungen auf den ökologischen Fußabdruck und Ökosys- teme anderswo hat“, sagt Brouwers.
Er hat die Vision, dass die Nordsee im Jahr 2030 ganz anders aussehen könnte, und wünscht sich, dass in den Niederlan- den dann auf mindestens 400 Quadratkilo- metern Seetang zwischen Windparks wächst. Diese Fläche sei notwendig, um die Produktion zu steigern und damit die Gewinnspanne für die Erzeuger attraktiv zu machen. Zehn Millionen Tonnen, mehr als ein Viertel der Weltproduktion sei das erklärte Ziel.
Nicht heimischer Seetang könnte einheimische Arten schwächen oder sogar ausrotten
Marc-Philip Buckhout von Seas At Risk, einem Zusammenschluss von 30 Umwelt- organisationen, die sich für die europäi- schen Meere einsetzen, ist kritisch. „Ich ha- be ein Déjà-vu aus dem Mainstream-Aqua- kultursektor, der von der Europäischen Kommission als nachhaltige Alternative zur Fischerei gefördert wurde“, sagt Buck- hout. Er befürchtet, dass es sich um einen neuen grünen Hype handelt, mit potenziell negativen Auswirkungen. „Für ein lukrati- ves Geschäft und vor allem, um die hohen Mengenanforderungen der chemischen In- dustrie zu befriedigen, muss man riesige Flächen für die Algenproduktion zur Verfü- gung stellen. Und das birgt Risiken.“
Dass die Nachfrage nach Seetang rapide ansteigt, bereitet nicht nur ihm Sorge. Eine Studie in Frontiers in Marine Science analy- siert, dass industrielle Algenzucht tiefgrei- fende, irreversible Auswirkungen auf die biologische Vielfalt haben könnte. Große Algenplantagen ab 20 Quadratkilometern absorbierten Licht, Nährstoffe und kineti- sche Energie in einem Maßstab, der das marine Ökosystem drastisch verändern könne. Intensive Monokulturen könnten
Das niederländisch-belgische Konsortium Wier& Wind führt erste Arbeiten
mit der vollautomatischen Erntemaschine Easyfarm durch, die über Bord gehoben und beim Abbausystem der Algen-Pilotan- lage in der Nordsee eingesetzt wird (oben). Der Gründer der Seaweed Company, Joost Wouters, verkostet
seinen getrockneten Atlantik-Wakame. FOTOS: BERTRAMS /TAYLOR6_THE SEAWEED COMPANY
die genetische Vielfalt beschränken und Krankheitserreger hervorbringen, die dann auch Wildpopulationen infizieren könnten. Das ist global bereits ein großes Problem.
Auch die Verbreitung nicht heimischer Seetange könnte katastrophale Folgen ha- ben, da sie einheimische Arten schwächen oder ausrotten. „Was man heute in der Nordsee aussetzt, kann man in einer Wo- che in dänischen Gewässern finden“, sagt Reinier Nauta von der Universität Wagenin- gen. „Die Vernetzung des Gebiets ist im Ver- gleich zu terrestrischen Systemen viel grö- ßer.“ Meeresökosysteme leiden weltweit am meisten unter invasiven Arten. Es sei von entscheidender Bedeutung, sicherzu- stellen, dass die Nachhaltigkeit des Algen- anbaus gewährleistet sei und die EU stren- ge Schutzmaßnahmen ergreife.
Würde die Aufforstung unter Wasser tatsächlich viel Kohlenstoff binden?
„Eine der wichtigsten Fragen ist die Aus- wirkung des Algenanbaus auf den Nähr- stoffhaushalt des Meeres“, so Algenfor- scher Nauta. Groß angelegte Projekte mit hohen Besatzdichten könnten einen Rück- gang des Phytoplanktons zur Folge haben, eine wichtige Nahrung für Fische, die wie- derum von Robben und Schweinswalen ge- fressen werden, erklärt er. Deren Zahl ist al- lein in der Nordsee so sehr geschrumpft, dass der Schweinswal seit 2020 als „stark gefährdet“ auf der Roten Liste geführt wird. Kunststoffnetze würden die Umwelt verschmutzen, die Säugetiere würden sich darin verfangen und vom Unterwasser- lärm durch maschinelle Erntefahrzeuge noch mehr beeinträchtigt werden als ohne- hin schon.
Eef Brouwers von North Sea Farmers sagt, dass bisherige Projekte zu klein gewe- sen seien, um messbare Ergebnisse hervor- zubringen. „Wir müssen erst einmal auf ei- ne gewisse Größenordnung kommen, um herausfinden zu können, was vor sich geht. Natürlich gibt es Daten über die Meeresal- genzucht, aber nicht in einer Offshore-Si- tuation. Die Dynamik ist hier völlig an- ders“, sagt er. „Wir wissen noch nicht, wel- che Auswirkungen das auf die Umwelt hat.“
Einige Unternehmen versprechen, durch Algenfarmen CO2 einzusparen und dadurch den Klimawandel zu bekämpfen. Darum gibt es unter anderem auch in der Europäischen Kommission Ideen, dass die Pflanze ein vielversprechender Kandidat für Kohlenstoff-Gutschriften sein könnte. Projekte, die Kohlenstoff binden, zum Bei- spiel durch Aufforstung, können einen Kre- dit für jede Tonne CO2 bekommen, die nicht in die Atmosphäre gelangt. Diese kon- trovers diskutierten Emissionszertifikate gibt es seit den 1990er-Jahren. In Zukunft könnten Unternehmen Algenwälder auf- kaufen oder anbauen, mit denen sie ihre
Emissionen kompensieren, was im Wesent- lichen eine Subventionierung der Algenin- dustrie bedeuten würde, aber nicht unbe- dingt notwendige CO2-Einsparungen.
Denn obwohl schnell wachsender See- tang ein effizienter Kohlenstoffspeicher ist, der bis zu 20-mal mehr CO2 aufnimmt als eine Landpflanze mit dem gleichen Vo- lumen, geht das meiste nach einem kurzen Wachstumszyklus wieder zurück in den Kohlenstoffkreislauf, und zwar wenn der Tang verrottet, gefressen oder geerntet wird. Nur wenn Algenstücke abbrechen und sich in der Tiefsee – in ein bis drei Kilo- meter Tiefe – ablagern, ist der darin enthal- tene Kohlenstoff für mehrere Hundert Jah- re sicher eingeschlossen.
Die Umweltschutzorganisation Green- peace ist besorgt, dass das Versprechen von CO2-Emissionshandel mit „Blauem Kohlenstoff“ zu einer massiven Auswei- tung der Algenzucht führen könnte. „Es be- steht die Gefahr, dass die Kohlenstoffmärk- te alles andere übertrumpfen und zu unge- eigneten Standorten oder einer nicht nach- haltigen Ausweitung der Aktivitäten füh- ren, die dann negative Auswirkungen auf die biologische Vielfalt haben und sogar die natürlichen Kohlenstoffsenken beein- trächtigen können“, sagt David Santillo, Meeresbiologe und leitender Wissenschaft- ler bei Greenpeace.
Die FAO warnt, dass Experimente zur Kohlenstoff-Sequestrierung in der Tiefsee ungeahnte Auswirkungen auf den Meeres- boden und das Ökosystem haben könnten. Eine echte Einsparung könne aber bei- spielsweise die Beimischung von Algenex- trakten zu Tierfutter sein, durch die Kühe weniger als halb so viel Methan freisetzen – eine viel beachtete Innovation, da Rinder für die Milch- und Fleischproduktion mehr als neun Prozent der gesamten men- schengemachten Treibhausgasemissio- nen verursachen. Und natürlich gebe es ein großes Einsparpotenzial für CO2-Emissio- nen, wenn Makroalgen in Produkten be- nutzt werden, für deren Herstellung der- zeit Materialien aus fossilen Brennstoffen verwendet werden.
In Mulroy Bay hofft Joost Wouters, dass die neue Industrie nicht die gleichen Feh- ler macht wie an Land. „Das ist ein Risiko, dessen sind wir uns sehr bewusst“, sagt er. Denn das Algenfieber werde „auch Leute anziehen, die sich nicht um die Natur küm- mern und nicht mit der Natur wachsen wol- len“. Darum habe The Seaweed Company ein dezentralisiertes System, mit vielen kleinen Farmen statt einer Großanlage. Dennoch glaubt er, dass man skalieren müsse, um Wirkung zu erzielen: „Um nach- haltig in finanzieller, sozialer und ökologi- scher Hinsicht zu sein, dafür braucht man eine Menge Algen.“
Diese Berichterstattung wurde durch den Howard G. Buffett Fund for Women Journalists der Interna- tional Women’s Media Foundation und durch den Postcode Lotteriefonds von Free Press Unlimited unterstützt.